Herta Müller

* 17. August 1953 in Nitzkydorf (Rumänien)

von Valentina Glajar

Leben und Werk

Quelle: Amrei-Marie unter cc-by-sa3.0 und GFDL, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8011160

Herta Müller wurde am 17. August 1953 als einziges Kind von Joseph und Katharina Müller im banatschwäbischen Dorf Nitzkydorf (rum. Nițchidorf, ung. Niczkyfalva), Rumänien, geboren. Müllers Vater kämpfte während des Zweiten Weltkriegs unter anderem als Mitglied der Waffen-SS. Nach Kriegsende kehrte er in seine Heimat zurück und war als Lastwagenfahrer tätig. Er verstarb 1978. Ihre Mutter wurde als junges Mädchen im Januar 1945 als Arbeitskraft für den Wiederaufbau in die Ukraine deportiert. Müller verbrachte ihre ersten acht Schuljahre in ihrem Heimatdorf und zog anschließend nach Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár), wo sie 1972 am Nikolaus-Lenau-Lyzeum das Abitur ablegte. Nach erfolgreich bestandener Universitätsaufnahmeprüfung schrieb sie sich 1972 an der Universität Temeswar für das Studium der Germanistik und Rumänistik ein. Müller erhielt ihren Universitätsabschluss im Jahr 1976 mit einer Arbeit über den rumäniendeutschen Autor Wolf von Aichelburg.

Ihre erste Arbeitsstelle nach dem Universitätsabschluss trat sie in der Fabrik „Tehnometal“ (vollständiger Name: „Uzina constr. de masini Tehnometal Timişoara“, dt. Maschinenkonstruktionsfabrik Tehnometal Temeschwar) in Temeswar an, wo sie von 1976 bis 1979 (oder 1980) als Deutsch- und Rumänisch-Übersetzerin arbeitete.

Während ihrer Zeit bei Tehnometal trat ein Offizier der rumänischen Geheimpolizei Securitate namens „Stana“ an sie heran, um sie als Informantin zu rekrutieren. Als Müller die Zusammenarbeit verweigerte, drohte „Stana“ ihr mit Entlassung. Müller verlor schließlich tatsächlich ihre Arbeitsstelle, doch konnte dies nicht die Verbreitung des verunglimpfenden Gerüchts verhindern, sie arbeite für die Securitate. Bevor sie aufgrund ihres Antrags auf Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland ihre Stelle als Lehrerin aufgeben musste, hatte Müller an verschiedenen Schulen und an einem Kindergarten in Temeswar als Deutschlehrerin unterrichtet.

Müller begann ihre Karriere als Prosaautorin und Lyrikerin in den 1970er-Jahren. Schon 1972 veröffentlichte sie zwei Gedichte in dem Band Wortmeldungen. Eine Anthologie junger Lyrik aus dem Banat (hg. Eduard Schneider, Facla, 1972). 1976, in ihrem letzten Studienjahr an der Universität, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht in der deutschsprachigen rumänischen Zeitschrift Neue Literatur. In dieser Zeit heiratete sie ihren ersten Mann, Herbert Karl, einen rumäniendeutschen Ingenieur, mit dem sie 1976 einen ersten Antrag auf Auswanderung stellte. Nach dem Tod ihres Vaters zog sie ihren Auswanderungsantrag jedoch zurück und ließ sich bald darauf von ihrem Mann scheiden. Auch erweckte der Tod ihres Vaters neues Interesse am Schreiben, was ihr dabei half, sich mit ihrem Verlust auseinanderzusetzen. Sie schöpfte daraus aber auch den Mut, in den Rückspiegel ihres Lebens zu blicken und über ihren eigenen Hintergrund und ihre persönliche Geschichte nachzudenken. Ihre erneute Konzentration auf das Schreiben brachte sie in Kontakt mit anderen jungen deutschsprachigen Autoren, von denen viele Mitglieder der 1975 aufgelösten Aktionsgruppe Banat gewesen waren. Der Austausch mit ihren Kollegen kam ihrem literarischen Schaffen durchaus zugute. Zugleich jedoch geriet sie durch ihre Bekanntschaft mit den rumäniendeutschen AutorenInnen stärker in den Fokus des rumänischen Geheimdienstes, der Securitate, da alle ihre Schriftstellerfreunde aufgrund ihrer „staatsfeindlichen“ Schriften bereits von der Securitate unter die Lupe genommen worden waren. Auch ihre Beziehung zu Richard Wagner, die nach einer zufälligen Begegnung in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) im Jahr 1979 ihren Anfang nahm, war für den Geheimdienst von großem Interesse, da Wagner, Gründungsmitglied der Aktionsgruppe Banat, unter stetiger Beobachtung der Securitate stand.

Während dieser Zeit gewann Müllers literarische Karriere an Fundament. Mehrere Prosatexte erschienen in rumänischen deutschsprachigen Publikationen wie der Neuen Banater Zeitung, der Neue Literatur und den Pflastersteinen, der jährlichen Publikation des Temeswarer deutschsprachigen Literaturkreises Adam Müller-Guttenbrunn.

1982 veröffentlichte Kriterion, der rumänische Verlag mit deutscher Abteilung, ihr erstes Buch, eine Sammlung von Prosatexten mit dem Titel Niederungen. Müllers Debütband sollte sie aber nicht nur in Rumänien bekannt machen (sie erhielt hierfür 1984 den Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbands); Müller reüssierte damit auch auf dem Buchmarkt der Bundesrepublik. Mit Hilfe ihres Freundes Ernest Wichner, der 1975 aus Rumänien ausreiste, schmuggelte Müller ihr Buch nach Westberlin. 1984 erschien im dortigen Rotbuch Verlag eine Kurzfassung der Sammlung, ebenfalls unter dem Titel Niederungen. Dieser Band erweckte das Interesse westdeutscher Leser und Kritiker. 1984 wurde Müller hierfür der Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt zuerkannt, 1985 der Förderpreis des Bremer Literaturpreises. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit und damit verbundener weiterer Einladungen ins westliche Ausland sah sich die Securitate gezwungen, Neuland zu betreten: Man musste Müller genehmigen, ins Ausland zu reisen, wenn man nicht die Kritik der westlichen Presse mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung in Ceauşescus Rumänien riskieren wollte. Die Lösung bestand in den Augen der Securitate darin, Müller dazu zu bewegen, sich im Ausland angemessen zu verhalten – mit anderen Worten, keine Kritik an Rumänien zu üben – und nicht mit Regimekritikern oder „hinterhältigen“ Rundfunksendern wie beispielsweise Radio Free Europe in Verbindung zu treten. Laut den Akten des rumänischen Geheimdienstes fand die erste Kontaktaufnahme („contactare“) im September 1984 statt, vor ihrer ersten Reise nach Westdeutschland. Bis Mitte 1985 folgten zahlreiche weitere „contactari“. Dennoch konnte Müller zwischen Oktober 1984 und Mai 1985 viermal nach Westdeutschland und einmal nach Frankreich reisen.

Durch die Installation von Abhörgeräten in der gemeinsamen Wohnung von Herta Müller und Richard Wagner, die im November 1984 abgeschlossen wurde, verschaffte sich die Securitate direkten und unmittelbaren Zugang zu ihren beiden Zielpersonen, zu deren sozialem Umfeld und zu Besuchern aus dem Ausland. Die im August 1985 abgehörten Informationen verrieten der Securitate, dass Müller und Wagner beabsichtigten, einen Antrag auf eine gemeinsame Vortragsreise nach Westdeutschland zu stellen. Sollte ihr Antrag genehmigt werden, so ihr Plan, würden sie politisches Asyl beantragen und nicht wieder nach Rumänien zurückkehren. Da ihr Antrag, als Ehepaar auszureisen, in Anbetracht der erhaltenen Informationen offenbar abgelehnt worden war, stellten Müller und Wagner am 2. Oktober 1985 einen Auswanderungsantrag.

Trotz penibler Überwachung durch die Securitate während dieser Zeit gelang es Müller, ihren neuen Roman, Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, aus dem Land zu schmuggeln. Er wurde 1986 vom Rotbuch Verlag veröffentlicht. Der Roman behandelt die Auswanderung ethnischer Deutscher im kommunistischen Rumänien, einen Prozess, der mit Bestechung, Fehlinformationen, jahrelangem Warten und einem Zustand der Trostlosigkeit verknüpft war. Für Müller jedoch war das Verfahren zur Genehmigung ihrer Ausreise von relativ kurzer Dauer, was auch darauf zurückgeführt werden kann, dass sie die Unterstützung des westdeutschen Schriftstellerverbandes sowie der westdeutschen Botschaft in Bukarest erhielt. Müller, Wagner und Müllers Mutter wurde gestattet, am 28. Februar 1987 Rumänien zu verlassen. Nach dem obligatorischen Aufenthalt mit Situationsbesprechung im Übergangslager Nürnberg ließen sie sich in Westberlin nieder.

Das Interesse der Securitate an beiden Schriftstellern nahm nach deren Auswanderung jedoch keineswegs ab. Verschiedene Informanten verfassten weiterhin Berichte über das Paar. Ganz besonders hervorzuheben ist dabei der Besuch der Inoffiziellen Mitarbeiterin „Sanda“ bei Herta Müller. Jeni, eine von Müllers besten Freundinnen aus Temeswar, kam im Auftrag der Securitate nach Berlin. Im Anschluss an ihre Rückkehr nach Rumänien hielt Jeni alias „Sanda“ eine große Menge von Informationen sowohl zu Müller als auch zu Wagner schriftlich fest. Diese Informantin wurde zur Vorlage für mehrere Figuren, die in Müllers Werk zu finden sind: Tereza in Herztier, Dana in Reisende auf einem Bein und Clara in Der Fuchs war damals schon der Jäger.

1988 lernte Müller ihren gegenwärtigen Lebensgefährten Harry Merkle kennen, mit dem sie das Drehbuch für den Spielfilm Vulpe – vânător (dt.: Der Fuchs – Der Jäger, 1993) schrieb. Bald nach ihrer Begegnung mit Merkle trennten sich Müller und Wagner, ließen sich jedoch erst Jahre später scheiden. In Reisende auf einem Bein (1989) fiktionalisierte Müller ihr Leben als alleinstehende Einwanderin in einer deutschen Großstadt. Es handelt sich hierbei um ihren ersten und einzigen Versuch, sich mit „bundesdeutschen“ Themen auseinanderzusetzen. Den überwiegenden Teil ihres literarischen Schaffens widmet Müller ihrer Verarbeitung von Nicolae Ceauşescus diktatorischer Gewaltherrschaft in Rumänien. Die Autorin beschreibt ihr Werk dabei gern mit dem Begriff „autofiktional“. Fiktionalisierte Schilderungen des Leidens und der Verfolgung unter dem Ceauşescu-Regime bieten Romane wie Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1995) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997), Essaysammlungen wie Barfüßiger Februar (1987), Hunger und Seide (1995) und Der König verneigt sich und tötet (2003)sowie zahlreiche weitere Essays und Interviews. In diesen Textenbeschreibt Müller Überwachungsmethoden der rumänischen Securitate sowie die Traumata, die den Menschen dadurch zugefügt wurde – Traumata, die, wie in ihrem persönlichen Fall, auch nach der Einwanderung nach Deutschland anhalten. Herztier beispielsweise beruht auf den Erfahrungen einer Gruppe rumäniendeutscher SchriftstellerInnen und beschreibt eine Atmosphäre der Angst und Hoffnungslosigkeit im kommunistischen Rumänien der 1980er-Jahre, welches sich in einem wirtschaftlich und kulturell verheerenden Zustand befindet. Die Romanfiguren beziehen sich weitgehend auf die Autoren Rolf Bossert, der aus dem kommunistischen Rumänien ausgewandert war und wenige Wochen nach seiner Ankunft in Frankfurt Selbstmord beging, auf Müllers ehemaligen Ehemann Richard Wagner sowie auf Roland Kirsch, der sich während des Wartens auf seine Auswanderung nach Deutschland das Leben nahm.

Politik und Ästhetik prägen den Großteil von Herta Müllers fiktionalen, aber auch essayistischen Texten. Insbesondere in ihrem nach ihrer Ausreise entstandenen essayistischen Werk seziert Müller die postkommunistische rumänische Realität mit der ihr eigenen präzisen und unerbittlichen Sprache. Thematisch und sprachlich weisen ihre Texte immer wieder zurück in die selbst erlebte Vergangenheit. Die Gegenwart erscheint als gebrochene Fortsetzung einer als traumatisch empfundenen Vergangenheit, die fortwährend beeinflusst, wie die Autorin das Leben von Ausländern, Roma oder auch nur Andersdenkenden wahrnimmt. In Hunger und Seide (1995) sowie Der König verneigt sich und tötet (2003) gewährt Herta Müller dem Leser Zugang zu ihrer Welt der Vergangenheit – zu ihrem Leben, ihrer Familie, ihren Erfahrungen –, dem Anschein nach sorgfältig nach Dorf und Stadt getrennt und doch häufig zusammenkommend in bestimmten Gegenständen, Blumen oder Pflanzen. In Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (2011) erklärt Müller „Sprachbilder“ zu Wörtern, die an die Stelle langer und komplizierter Geschichten treten. „Schneeverrat“ beispielsweise erzählt die Geschichte der Fußabdrücke ihrer Mutter im Schnee, die ihr Versteck verrieten und so zu ihrer Deportation in die Ukraine führten.

Diese Wortschöpfungen fanden ihre gegenständlichen Entsprechungen in Herta Müllers literarischen Collagen, die im weitesten Sinne als ästhetisch-politische Darstellungsform bezeichnet werden können. Indem sie Wörter oder Buchstaben aus verschiedensten Druckerzeugnissen ausschneidet und neu zusammenfügt, schafft Müller experimentelle Literatur und bedient sich damit eines radikalen Mittels zur Brückenbildung zwischen Kunst und Materialität. Die erste Beschreibung dieser Collagen-Aktivität findet sich in Reisende auf einem Bein: die Hauptfigur Irene fertigt eine Collage über ihr Alltagsleben an. Einige Jahre nach Erscheinen dieser Erzählung begann Müller mit der Anfertigung tatsächlicher Collagen in Postkartengröße, die erstmals in ihrer Essaysammlung Der Teufel sitzt im Spiegel (1991) veröffentlicht wurden. Es folgten drei weitere Sammlungen auf Deutsch: Der Wächter nimmt seinen Kamm (1993), Im Haarknoten wohnt eine Dame (2005) und Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2006). 2005 veröffentlichte Müller ihren ersten und bisher einzigen Collagenband in rumänischer Sprache mit dem Titel Este sau nu este Ion (2005) [Ist es oder ist es nicht Ion].

Müllers Sprachbilder nahmen eine intensive kreative Wende, nachdem sie während ihrer Recherchen über die Deportation vieler Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager Oskar Pastior kennenlernte. Wie ihre Mutter hatte auch Pastior fünf Jahre in einem Arbeitslager in der Ukraine verbracht. Während seiner letzten Lebensjahre wurde er zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Müller und war ihr ein bedeutender Freund. Gemeinsam arbeiteten sie an ihrem bislang jüngsten längeren Erzähltext, dem Roman Atemschaukel (2009). Ursprünglich hatte ihr gemeinsamer Freund Ernest Wichner zu einer Diskussion über die Erlebnisse der Deportation angeregt. Oskar Pastior gab Müller Einblick in minuziöse Details und inspirierte sie zu Wortkombinationen, die im Roman an die Stelle ganzer Sätze treten: Apellkraut, Meldekraut, Hungerwort, Hungerengel oder Herzschaufel. Der Zusammenarbeit mit Pastior, die auch eine Forschungsreise in die Ukraine umfasste, wurde durch Pastiors plötzlichen Tod im Jahr 2006 ein unerwartetes Ende gesetzt. Müller schloss das Buch alleine ab und veröffentlichte es im Jahr 2009, dem Jahr, in dem sie ihre höchste Auszeichnung erhielt – den Nobelpreis für Literatur.

Im selben Jahr, 20 Jahre nach dem politischen Umsturz in Rumänien, veröffentlichte Müller den Essay Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Hintergrund des Textes ist eine erneute Begegnung mit der Securitate: Sie erhielt Zugang zu ihrer persönlichen Securitate-Akte, die die offizielle Dokumentation ihrer Überwachung durch den rumänischen Geheimdienst enthält. Das Ausmaß der Überwachung und die damit verbundene Entrüstung und Enttäuschung veranlassten Müller zu einer neuerlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die Autorin reagierte auf die in der Akte enthaltenen Informationen mit der Wiedergabe ihrer eigenen Erinnerungen und mit der genauen Beschreibung der Wirkung, die die Securitate auf ihr Leben hatte. Wie zahlreiche andere Opfer staatlich finanzierter Überwachungen brachte und bringt sie weiterhin ihre Unzufriedenheit über die unvollständigen Informationen und die vielen Lücken in ihrer Akte zum Ausdruck. Aus wissenschaftlicher Sicht überschätzt sie damit allerdings oft den Einflussbereich der Securitate und lässt deren Beschränkungen außer Betracht. So stellt sie beispielsweise die These auf, ihre Geheimdienstakte sei nach 1990, also nach dem offiziellen Ende der Securitate, verändert worden. Inwieweit ihre Akte von welcher Institution verändert worden war, kann nach heutigem Stand der Aufarbeitung nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Von einer pauschalen Zensur, wie sie Müller vielfach beschreibt, kann jedenfalls nicht gesprochen werden.

Rezeption

Als die Schwedische Akademie im Jahr 2009 den Nobelpreis für Literatur verkündete, war Herta Müller noch in keinem Teil der Welt ein vertrauter Name. Besonders kritisch und schockiert reagierten US-amerikanische Zeitungen, deren Redaktionen sich um Auskünfte über die frischgebackene Nobelpreisträgerin rissen. Die Autorin war der Öffentlichkeit in den USA damals praktisch unbekannt. „Wenn das Nobelpreiskomitee den Nobelpreis für Medizin auf diese Art verliehen hätte, gäbe es bis heute Kinderlähmung“, so die Reaktion eines in der New York Times zitierten New Yorker Schriftstellers. Bis zu jenem Zeitpunkt waren fünf von Müllers Werken in englischer Übersetzung erschienen. Eines davon wurde zuerst in Großbritannien veröffentlicht (The Passport), vier in den USA (The Land of Green Plums, Traveling on One Leg, Nadirs und The Appointment).

Während die anfangs bissigen Reaktionen auf die Zuerkennung des Nobelpreises für Literatur teilweise darauf zurückzuführen waren, dass den amerikanischen Schriftstellern erneut eine Abfuhr erteilt worden war, wurde Müllers Werk weltweit in erster Linie als Widerspiegelung ihrer Lebensgeschichte gesehen. In der Verkündung der Schwedischen Akademie war Müller als Schriftstellerin gepriesen worden „who, with the concentration of poetry and the frankness of prose, depicts the landscape of the dispossessed“. Weltweit folgten zahlreiche weitere Publikationen dieser Einschätzung und lobten Herta Müllers literarische Qualitäten sowie ihr politisches Engagement. Einige jedoch stellten in ihrem Werk den Aspekt des Politischen über den des Künstlerischen, so zum Beispiel die englischsprachige deutsche Publikation The Local, die die Autorin als „ein deutsches Gewissen für Ceauşescus Rumänien“ bezeichnete. Nicht nur erklärte The Local Müller zu einer Expertin für Ethikfragen, wodurch die literarische Qualität ihres Werks in den Hintergrund gedrängt wurde; die Publikation brachte auch Müllers „rumänische Phase“ sowie das Thema der deutsch-rumänischen Rivalität in die Debatte über die Verleihung des Nobelpreises ein.

Auch in Rumänien war Müller kaum bekannt. Fernsehteams und Journalisten fielen in das kleine, abgeschiedene Nitzkydorf ein und interviewten jeden, der behauptete, sich an das eine oder andere Detail von Müllers Leben in Rumänien erinnern zu können.

Schon bald füllten sich die Seiten rumänischer Zeitungen mit oberflächlichen Kritiken vonseiten rumänischer Intellektueller, aber auch ehemaliger Securitate-Offiziere und selbsternannter Literaturkritiker. Nur drei von Müllers Romanen waren in rumänischer Sprache erschienen: Incă de pe atunci vulpea era vînatorul (1998), Regele se înclină si omoară(2005) und ihr Collagenband Este sau nu este Ion (2005). Auch kam im Jahr 1993 Stere Guleas Spielfilm Vulpe—vânător heraus. Die rumänische Debatte nach der Verleihung des Nobelpreises konzentrierte sich meist auf die nationale Zugehörigkeit. Müller war in Rumänien auf die Welt gekommen – konnte Rumänien also irgendeinen Anspruch auf die begehrte Nobelauszeichnung geltend machen? Die rumänischen Stellungnahmen deckten das gesamte Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten ab: Mircea Cărtărescu nannte den Nobelpreis eine Ehre für Deutschland, Iulia Popovici lehnte die Vorstellung, dass Müllers Nobelpreis in irgendeiner Weise als rumänisch betrachtet werden könne, kategorisch ab, und Paul Cernat fand die Mitte und bezeichnete die Zuerkennung als „postnationalen Nobelpreis“. Am anderen Ende des Spektrums äußerte der rumänische Journalist Cristian Tudor Popescu die Meinung, dass Herta Müller den Nobelpreis für Literatur nicht verdient habe: „Als ihr der Preis verliehen wurde, sprach sie über die Diktatur, nicht aber über Literatur, gerade so, als sei sie Nelson Mandela. Ein Friedensnobelpreis wäre in ihrem Falle angemessener gewesen.“ Die provokativste Äußerung kam von einem ehemaligen Securitate-Offizier, Radu Tinu, der die Ansicht vertrat, Müller schulde der Securitate die Hälfte des Geldes, das sie für den Nobelpreis erhalten hatte. Andere wiederum spekulierten darüber, welche Art von Texten Müller verfasst hätte, wenn es Ceauşescu nie gegeben hätte, oder ob sie jemals einen Nobelpreis erhalten hätte, wenn sie in Rumänien geblieben wäre. Trotz oder vielleicht gerade wegen der hitzigen Debatte wurden die vorhandenen rumänischen Übersetzungen regelrecht aus den Regalen gerissen; im darauf folgenden Jahr wurden neue Übersetzungen veröffentlicht, darunter Călătorind pe un picior und Leagănul respiraţiei.

Zweifelsohne hat Herta Müller durch ihren Nobelpreis – und zum Teil auch durch den elf Jahre zuvor erhaltenen IMPAC-Preis – in der Welt Bekanntheit erlangt. Übersetzungen ihrer Werke erscheinen seither in Dutzenden von Sprachen, und die Müller-Forschung wächst und gedeiht. Die Rezeption bleibt jedoch weiterhin gespalten – während die einen sie als Chronistin des Lebens unter dem Kommunismus betrachten, konzentrieren sich die anderen im Wesentlichen auf ihre Art des Schreibens. In einem Interview mit dem inzwischen verstorbenen rumänischen Literaturkritiker Mircea Iorgulescu erklärt die Autorin 1999 diese Gespaltenheit als Ausdruck der Gegenüberstellung von Ost und West. Das Interview erfolgte zu einer Zeit, in der die Erinnerung an den Eisernen Vorhang noch lebendig war und Herta Müllers Werk zweifellos wunde Punkte auf beiden Seiten berührte. LeserInnen aus dem Westen, so Müller, seien vor allem an theoretischen Konzepten von Diktaturen und totalitären Systemen interessiert, während viele Leser aus dem Osten ihre Bücher läsen, als blätterten sie die Seiten ihres eigenen Lebens um. Persönliche Erinnerungen an die Zeit der Spaltung durch den Eisernen Vorhang mögen verblassen oder in die Geschichte eingehen. Die jüngere Forschung aber gibt den Weg frei für frische und global relevante Perspektiven zu Müllers Werk – einem Werk, das einmal als unzugänglich für jene Leser verstanden worden war, die nicht über fundiertes Hintergrundwissen verfügten und daher keinen Schlüssel zu Müllers Werk besaßen.

Archivsituation

Das Archiv von Herta Müller befindet sich in Privatbesitz.

Werke

Prosa

  • Niederungen. Bukarest, Kriterion, 1982. [gekürzte Fassung; vollständig in Deutschland: Berlin, Rotbuch, 1984]
  • Drückender Tango. Erzählungen. Bukarest, Kriterion, 1984. [in Deutschland: Berlin, Rowohlt, 1988]
  • Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Berlin, Rotbuch, 1986.
  • Barfüßiger Februar. Berlin, Rotbuch, 1987.
  • Reisende auf einem Bein. Berlin, Rotbuch, 1987.
  • Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin, Rotbuch, 1991.
  • Der Fuchs war damals schon der Jäger. Reinbek, Rowohlt, 1992.
  • Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Hamburg, Europäische Verlags-Anstalt, 1992.
  • Herztier. Reinbek, Rowohlt, 1994.
  • Hunger und Seide. Reinbek, Rowohlt, 1995.
  • In der Falle. Göttingen, Wallstein, 1996.
  • Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Reinbek, Rowohlt, 1997.
  • Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne. Göttingen, Wallstein, 1999.
  • Der König verneigt sich und tötet. München, Hanser, 2003.
  • Atemschaukel. München, Hanser, 2009.
  • Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Göttingen, Wallstein, 2009.
  • Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München, Hanser, 2011.

Collagen

  • Der kalte Schmuck des Lebens. Texte. Berlin, Ursus Press 05, 1987.
  • Der Wächter nimmt seinen Kamm. Reinbek, Rowohlt, 1993.
  • Im Haarknoten wohnt eine Dame. Reinbek, Rowohlt, 2000.
  • Este sau nu este Ion. Iași, Polirom, 2005.
  • Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München, Hanser, 2005.
  • Vater telefoniert mit den Fliegen. München, Hanser, 2012.

Theater

  • Herztier. UA Maxim-Gorki-Theater Berlin am 20. April 2009. Regie Felicitas Bruckner.
  • Niederungen. UA Staatstheater Temeswar am 29. September 2012. Regie Niky Wolcz.
  • Reisende auf einem Bein. Deutsches Schauspielhaus in Hamburg am 25. September 2015. Regie Katie Mitchell.

Film

  • Vulpe-vânător. Regie Stere Gulea. Drehbuch Herta Müller und Harry Merkle. 1993.

Sekundärliteratur (Auswahl)

  • Norbert Otto Eke (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller. Paderborn, Igel-Verlag, 1991.
  • Herta Haupt-Cucuiu: Eine Poesie der Sinne: Herta Müllers „Diskurs des Alleinseins“ und seine Wurzeln. Paderborn, Igel-Verlag, 1996.
  • Ralph Köhnen (Hg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten Herta Müllers. Frankfurt am Main u.a., Peter Lang, 1997.
  • Antje Harnisch: „Ausländerin im Ausland“. Herta Müller’s ‚ Reisende auf einem Bein‘. In: Zs. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 89 (1997) H. 4, S. 507–520.
  • Valentina Glajar: Banat-Swabian, Romanian, and German: Conflicting Identities in Herta Müller’s ‚Herztier‘. In: Zs. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 89 (1997) H. 4, 521–540.
  • Brigid Haines (Hg.): Herta Müller. Cardiff, University of Wales Press, 1998.
  • Grazziella Predoiu: Faszination und Provokation bei Herta Müller, eine thematische und motivische Auseinandersetzung. Frankfurt am Main u a., Peter Lang, 2000.
  • Herta Müller. Text und Kritik 39 (2002) H. 155.
  • Brigid Haines: “The Unforgettable Forgotten”: The Traces of Trauma in Herta Müller’s ‚Reisende auf einem Bein‘. In: German Life and Letters 55 (2002) H. 3, S. 266–281.
  • Carmen Wagner: Sprache und Identität. Literaturwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte zum Werk von Herta Müller. Oldenburg, Igel-Verlag, 2002.
  • Astrid Schau: Leben ohne Grund. Konstruktion kultureller Identität bei Werner Söllner, Rolf Bossert und Herta Müller. Bielefeld, Aisthesis, 2003.
  • Bogdan Dascalu: Held und Welt in Herta Müllers Erzählungen. Hamburg, Kovač, 2004.
  • Diana Schuster: Die Banater Autorengruppe. Selbstdarstellung und Rezeption in Rumänien und Deutschland. Konstanz, Hartung-Gorre, 2004.
  • Valentina Glajar: The Discourse of Discontent: Politics and Dictatorship in Herta Müller’s ‚Herztier‘. In: Valentina Glajar: The German Legacy in East Central Europe. New York, Camden House, 2004, S. 115–160.
  • Paola Bozzi: Der fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2005.
  • Lyn Marven: Body and Narrative in German Literature. Herta Müller, Libuse Moníková, and Kerstin Hensel. Oxford, Clarendon Press, 2005.
  • Iulia-Karin Patrut: Schwarze Schwester – Teufelsjunge. Ethnizität und Geschlecht bei Herta Müller und Paul Celan. Köln/Weimar/Wien, Böhlau, 2006.
  • Anja Maier: Fremdelnde Dinge. Alltagsgegenstände in H. M.s ‚Der König verneigt sich und tötet‘.. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2007) H. 1, S. 53–61.
  • Maria S. Grewe: Estranging Poetic. On the Poetic of the Foreign in Selected Works by Herta Müller and Yoko Tawada. New York, Columbia University, 2009.
  • Urs Meyer: Sprachbilder oder Bildsprache? Herta Müllers mediale Miniaturen. In: Germanistik in der Schweiz 6 (2009), S. 29–38. Online unter: <http://www.sagg-zeitschrift.unibe.ch/6_09/>, 7. Februar 2019.
  • Katja Suren: Ein Engel verkleidete sich als Engel und blieb unerkannt: Rhetoriken des Kindlichen bei Natascha Wodin, Herta Müller und Aglaja Veterany. Dissertation Universität Paderborn, 2011.
  • Bettina Brandt, Valentina Glajar (Hgg.): Herta Müller. Politics and Aesthetics. Lincoln, University of Nebraska Press, 2013.
  • Brigid Haines, Lyn Marven (Hgg.): Herta Müller. Oxford, Oxford University Press, 2013.
  • Helgard Mahrdt, Sissel Lægreid (Hgg.). Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2013.
  • Norbert Otto Eke (Hgg.): Herta Müller Handbuch. Stuttgart, Metzler, 2017.

Auszeichnungen (Auswahl)

  • 1981: Förderpreis des Temeswarer Literaturkreises
  • 1982: Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbands
  • 1984: Aspekte-Literaturpreis
  • 1985: Förderpreis zum Literaturpreis der Stadt Bremen
  • 1987: Ricarda-Huch-Preis
  • 1989: Marieluise-Fleißer-Preis
  • 1992: Deutscher Kritikerpreis
  • 1994: Kleist-Preis
  • 1995: Europäischer Literaturpreis Prix Aristeion
  • 1998: BrüderGrimm-Professur der Universität Kassel
  • 1998: International IMPAC Dublin Literary Award
  • 2004: Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung
  • 2005: Berliner Literaturpreis
  • 2009: Nobelpreis für Literatur
  • 2010: Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
  • 2012: Ehrendoktorwürde der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, der Swansea University (UK) und des Dickinson College (USA)
  • 2012: Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst
  • 2015: Heinrich-Böll-Preis, Literaturpreis der Stadt Köln
  • 2015: Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität Tübingen
  • 2017: Ehrendoktorat der Friedrich-Schiller-Universität Jena
  • 2018: OVID-Preis für ihr Lebenswerk vom P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland

Weblinks (Auswahl)

Publikationen (Auszüge) zum Download


Zitation

Valentina Glajar: Herta Müller. In: Donau-Karpaten-Literatur: Lexikon zur deutschsprachigen Literatur aus Zentral- und Südosteuropa (2019). URL: https://dokalit.ikgs.de/mueller-herta (Stand: 10.5.2024).

Nutzungsbedingungen

Dieser Artikel darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie redaktion@donau-karpaten-literatur.com.

Wenn Sie Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtigen bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments